Erbarme dich unser (AT)

Ich hasse Elternsprechtage! Klassenzimmer, Deutschprofessor. Wieder Warterei. Möchte wissen was der Wichtigtuer mit den alten Weibern so lange zu tratschen hat. Wahrscheinlich hält er einführende Vorlesungen über Goethe oder Lessing oder andere Schwulstschreiber! Blick auf die Uhr - zwanzig Minuten verscheiße ich jetzt schon in der Warteschlange. Könnte längst im Cafehaus sitzen und Zeitungen lesen. Nein - Elternsprechtag! Etwas Unnötigeres gibt es auf der Welt nicht. Vertrödle wertvolle Lebenszeit. Nächstes Mal ist seine Mutter dran. Soll sie sich zwischen diesen Xanthippen und deren kreischenden Brut anstellen! Die Alte vor mir riecht furchtbar - riechen alle Weiber so? Entweder sie kommen wie Straßenhuren daher - oder sie riechen nach Aufbahrungshalle. Schrecklich! Männer? Nach zehn Ehejahren hat sie sich beschwert, wir riechen entweder nach Schweiß oder Knoblauch. Ich mag Knoblauch. Gott, gibt es was besseres auf der Welt, als Butterbrot mit Knoblauch? In hauchdünnen Scheiben geschnitten - dazu kaltes Bier. Frauen wissen eben nicht, was gut schmeckt! Männer stinken nach Knoblauch! Sowas! Männerschweiß? Endlich geht die Tür auf. Eine Mutter kommt raus - die nächste marschiert hinein. Bin hier von Müttern umzingelt. Die Welt besteht nur noch aus Müttern. Blicke mich um - bin hier wohl der einzige Mann - und ein paar Rotznasen, die für ihre Eltern „Platzhalter“ spielen! In der Warteschlange vor dem Matheprofessor hab ich einen dieser Mistkäfer weggejagt ... hab der Mutter ordentlich den Marsch geblasen ... das nächste Mal käme ich mit zwanzig Kids zum Sprechtag und würde sie auf alle Sprechzimmer verteilen. Hat mich blöd angestarrt, die Kuh! Hätte mir was zu lesen mitnehmen sollen. Das Warten geht mir ordentlich auf die Eier! Ich werds kurz machen - „Kein überflüssiges Gerede, Herr Professor - zur Sache! Schieben sie sich den alten Weimarer dorthin wo er hingehört. Lehren sie gefälligst den Schülern was Gescheites - Kafka, Beckett, Bernhard ... Tucholsky, Grass - aber nicht diese verstaubten Langweiler!“ Die Alte kommt noch immer nicht raus. Wahrscheinlich plaudert sie aus ihrer spannenden Kindheit. Sie hätte auch kleine Gedichte verfasst ... niedliche Sonette über Glockenblümchen ... wäre gerne selbst Schriftstellerin geworden, aber frühe Schwangerschaft, Studiumverbot und so fort und so weiter. Und ich muss noch immer warten! Wann kommt die Kuh endlich raus ... Halt! Die Tür geht auf - nichts wie rein - nein, halt, alles zurück … der Herr Professor ist kein „Herr Professor“ sondern eine „Frau ...“, „Frau Professor“ - und was für eine! Ihre Augen! Strenge Augen - sie mustern mich von oben bis unten. Ausdruckstarkes Gesicht. Hohe Backenknochen - mag hohe Backenknochen. Strenger Zug um die Lippen - mag strengen Zug um die Lippen. Breite Schultern - mag breite ... Was hatte sie eben gesagt? Ich nicke ... hatte nicht zugehört. Besser ich halte die Klappe, als rede Blödsinn. Sie würde mir das nie verzeihen! Ihre Hände ... kräftige Hände - mag kräftige Hände. Sie blättert in einem kleinen Notizbuch. Sagt etwas - höre nichts, sehe nur ihren Busen. Sie bewegt ihre Lippen und zeigt mit dem Finger auf eine Stelle in ihrem Notizbuch - höre noch immer nichts. In meinem Hirn sind alle Gehörzentren abgeschaltet. Mein Blick streicht über den Busenansatz unter ihrer Achsel. Frau Professor sitzt nach vor gebeugt. Ihre Unterarme auf die Tischplatte gestützt. Hohlkreuz. Der Busen spannt die weiße Bluse. Zwei Falten des Blusenstoffs ziehen wie hauchdünne Skalpellschnitte von der straff geschnürten Taille bis unter die Achsel - der Büstenhalter schimmert durch den Blusenstoff. Ich bin taub. Sie nickt und spricht zu mir, ihre Lippen bewegen sich, die Zunge streicht zart über die Unterlippe, die Nässe glänzt im Licht ... höre noch immer nichts, als wäre der Ton abgedreht ...

 

Der Briefkasten quillt wieder mal über. Ich stehe vor dem Gartentor und wühle nach dem verflixten Auto-Schule-Haus-Briefkasten-Schlüsselbund. Versteckt sich natürlich in meiner Tasche die keine Tasche ist, sondern ein mit Programmheften vollgestopfter Sack. Wo zum Kuckuck...! Ich widerstehe dem Drang, den ganzen Stapel auf den Asphalt zu pfeffern. Genau im rechten Augenblick. Die Hefte können nichts für die Unordnung in meiner Tasche. Na endlich!
So, nur noch schnell den Briefkasten entleeren, dazu hatte ich heute nach der Schule keine Zeit. Nun, fast alles Postwurfsendungen. Andererseits mag ich die bunte Reklame, liebe es sie in Ruhe durchzublättern, meist in der Küche, im Stehen zu Kaffee oder einem Bier. Obwohl ich dann nicht hinfahren werde, wie verlockend die Angebote auch sein mögen.
Mit dem Packen Papier im Arm humple ich durch den Vorgarten. Der obenauf liegende Zettel ist mir sofort aufgefallen, sieht aus wie eine Nachricht. Im spärlichen Licht der Straßenlaterne glaube ich jedenfalls zu erkennen, dass es sich um keine der üblichen Werbungen für Solarium oder Frühjahrsbaumschnitt handelt. Ahhh – gleich bin ich diese verdammten Schuhe los! Ich hätte sie nicht anziehen sollen, nicht heute Abend. Die schwarzen hätten es auch getan, es kamen ohnehin nur die Eltern der Schüler und ein paar Großeltern zu der Vorstellung. Sonst lege ich ja auch keinen Wert auf schicke Klamotten. Aber nein, es mussten die neuen roten sein, wegen des koketten Spiels von rot und schwarz... 
Kaum im Haus, schlüpfe ich aus dem Pumps und kicke ihn in hohem Bogen weg. Voll Sorge betrachte ich die gerötete Stelle am kleinen Zeh, die ein Hühnerauge zu werden verspricht. Ich wusste es, kleine Sünden straft der Herr sofort, ein drückender Schuh war sein Werkzeug.

Barfuß laufe ich in die Küche und werfe den Stapel Reklameblätter auf die Anrichte. Jetzt passt ein Bier. Vor dem offenen Kühlschrank und seiner mir entgegen gähnenden Leere – ein einzelnes Mayonnaisebrötchen stirbt unter der Klarsichtfolie ergreifend vor sich hin – strecke ich den Rücken durch und angle mir eine Flasche. Nach einem genüsslichen Schluck hebe ich die handgeschriebene Nachricht gegen den Spot unter dem Oberschrank.
"Ich weiß, was dir fehlt. Heute Abend, 21:00 Uhr c. t., auf der Bank am Parkeingang vor der Schule."

Heute? Klar, heute nach der Aufführung. Die Welt ist offenbar voll von schrägen Typen! … Hm, eindeutig männliche Handschrift. Gut möglich, dass es einer der Väter meiner Schüler ist. Blöder Wichser! Ich werfe das Blatt zur Seite und widme mich den lokalen Modeanbietern und Einrichtungshäusern... Ich sollte heute noch Haare waschen, überlege ich über den Ansatz streichend, und stecke eine widerspenstige Strähne in das straff zurückgebundene Haar.
Gähnend – die Flasche ist längst leer – sammle ich die Reklameblätter ein. Mein Blick bleibt an dem handgeschriebenen Zettel hängen. Wie kommt der Typ eigentlich an meine Adresse? Wenn ich es genau überlege: der war HIER! Nun, zumindest vor dem Haus. Sicher, die Theateraufführung war überall angekündigt und an meine Adresse zu kommen ist keine Kunst. Die meisten wissen, dass ich hier in der Gegend wohne. "Spinner!", fauche ich und werfe den ganzen Packen zum Altpapier in den Korb unter der Anrichte.
Auf dem Weg ins Bad lasse ich die heutige Vorstellung Revue passieren. Außer dem eitlen Direktor ist mir kein Mann aufgefallen. Wer auch? Die Väter der Kids? Allesamt unscheinbare Typen. Nur der Herr Direktor ist nicht zu übersehen, diese Mischung aus Kasperltum, Fanatismus und Senilität – das hat beinahe Unterhaltungswert. Die Vorstellung in der Aula war gelungen, am Schluss gab es sogar frenetischen Applaus.
Ich werfe einen Blick in den hohen Badezimmerspiegel und lasse das enge Kleid an meinem Körper hinuntergleiten. Sieht irgendwie nuttig aus. "Das Gespenst von Canterville" war die Idee meiner Kollegin aus der Parallelklasse, ich hätte Kästner oder Nestroy vorgezogen. Die knochentrockene Anglistin hatte sich unbedingt Oscar Wilde eingebildet. Himmel...!, ich wippe auf den Fußballen, weil ich die Ösen des BHs nicht sogleich aufbekomme. Für die zweiten Klassen der Unterstufe war das in Ordnung, die Kinder hatten großen Spaß bei der Inszenierung und ihre Sache wirklich gut gemacht. Ich fange mit dem Stück nicht viel an. Nicht wegen Wilde, sondern weil ich der viktorianischen Zeit nichts abgewinnen kann. Sogar Klavierfüße galten damals als obszön. Nichts als verstaubter Snobismus. Bis heute.
Es fällt der BH, dann der Slip. Auf den weißen Fliesen kringelt sich die schwarze Spitze um meine Füße. Mit scharfem Blick suche ich im hellen Licht mehrerer Spots nach Härchen auf meiner Haut. Ich dulde keine Haare – nirgendwo. Ausgenommen Kopfhaar, Wimpern und die zu einem dünnen Bogen gezupften Augenbrauen. Mit Schaudern erinnere ich mich an den letzten Spitalsaufenthalt, und wie ich gleich nach der Rückkehr in einen wahren Epilationsrausch verfallen war. Kulturpessimisten deuten den Enthaarungsfanatismus gerne als Warnsignal für die gesellschaftliche Infantilisierung, Körperbehaarung soll ja biologisch gesehen zu den Merkmalen des Erwachsenseins zählen. Schon möglich. Davon abgesehen, dass ich die gesellschaftliche Infantilisierung ganz woanders sehe, verabscheue ich behaarte Menschen zutiefst.  Männer, die wie Affen aussehen. Denen die Matte beim offen stehenden Hemdkragen hinaussprießt, weil ihr Stammhirn meldet, dies sei besonders männlich  – igitt!
Mein Blick streift meine Brüste. Ich streichle über die straffen, vollen Rundungen, bis sich die Spitzen aufrichten und wie kleine, rote Lustantennen abstehen. Ahhh...! Ein angenehmer Schauer läuft mir über den Rücken. Verzückt steige ich unter die Dusche und lasse warmes Wasser über die Haut perlen.
Nach dem Bad gehe ich um ein Glas Wasser in die Küche. Oder heiße Schokolade? Schon drehe ich den Herd an. Meine Finger trommeln auf die Arbeitsfläche. Gott, die Milch braucht wieder mal endlos bis sie warm wird. Ich fische den Zettel des anonymen Witzbolds aus dem Altpapierkorb. Die saubere Handschrift deutet auf einen kleinlichen, introvertierten Menschen. Bestimmt kein ausschweifender Typ. Gähnend hole ich eine Tasse aus dem Schrank. Allzu viel verstehe ich ja nicht von Graphologie, aber menschliche Eigenschaften sollen sich in der Handschrift widerspiegeln. Spätentwickler fällt mir a prima vista ein. Weichei! Je länger ich die heiße Schokolade schlürfend das Blatt betrachte, umso endenwollender ist meine Sympathie. Dämlicher Idiot! Mag gebildet sein, "c.t." cum tempore weist zumindest darauf hin. Und wenn schon, Bildung schützt vor Blöd-Sein nicht. Vielleicht Akademiker. Egal, es ist ein erbärmlicher Wichser! Basta. Das Blatt segelt zum Altpapier. Ich stelle die Tasse in den Geschirrspüler und bewege mich Richtung Bett.

 

©   Ursula Walch / Erich Glavitza